Aus „Nachkommenschaften“ | Adalbert Stifter
So bin ich unversehens ein Landschaftsmaler geworden. Es ist entsetzlich. Wenn man in eine Sammlung neuer Bilder gerät, welch eine Menge von Landschaften gibt es da; wenn man in die Gemäldeausstellung geht, welch eine noch grössere Menge von Landschaften trifft man da an, und wenn man alle Landschaften, welche von Landschaftsmalern unserer Zeit gemalt werden, von solchen Landschaftsmalern, die ihre Bilder verkaufen wollen, und von solchen, die ihre Bilder nicht verkaufen wollen, ausstellte, welch allergrösste Menge von Landschaften würde man da finden! Ich rede hier gar nicht von den verschämten Töchtern, welche in Wasserfarben heimlich eine Trauerweide malen, unter welcher irgendein bekränzter Krug steht, an dessen Fusse Vergissmeinnicht blühen, welches Werk die Mutter zum Geburtstage erhalten soll; ich rede ferner nicht von den Erzeugnissen, welche reizende Frauen oder Mädchen von dem Dampfschiffe oder dem Fenster ihres Gasthauses aus in ihr Handbuch als Erinnerung eintragen; ich rede auch nicht von den Landschaften, welche Schönschreibmeister in ihre Verzierungen verflechten, noch von den Päcken Zeichnungen, welche alljährlich in den Fräuleinschulen verfertiget werden, unter denen sich viele Landschaften mit Bäumen befinden, auf denen Handschuhe wachsen – wenn man das alles hinzählte, so wären wir mit Landschaften überschüttet, und die Menschen müssten verzweifeln. Nun, es sind der in Ölfarben gemalten und mit Goldrahmen versehenen Landschaften schon genug. Und ich will nun auch noch so viele Landschaften mit Ölfarben malen, als in mein noch übriges Leben hineingehen.
Adalbert Stifter | Die schönsten Erzählungen Dritte Folge | Scientia – Verlag Zürich 1949 | Seite 123
Aus der Vorrede zu „Bunte Steine“ | Adalbert Stifter
…Weil wir aber schon einmal von dem Grossen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen.
Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für gross. Das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für grösser als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind.
Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen, und reissen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht, und nur in ihm allein Grossartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist.
Adalbert Stifter | Vom Grossen im Kleinen | Scientia – Verlag Zürich 1949 | Seite 26
Aus dem 6. Winterbrief aus Kirchschlag | Adalbert Stifter
… Und wer es unternimmt, dem unermesslichen Leben unseres Himmelsgewölbes mit seiner Betrachtung zu folgen, das Blau des heitern Himmels anzusehen, immer die Einsamkeit, und immer ein anderes, auf die Wolken zu blicken, wie sie werden, sich gestalten, sich verändern, mit Lichtern oder sanften oder tiefen Schatten spielen, sich heben, türmen, sich verbinden, sich trennen, sich ausbreiten, in ländergrossen Flächen dahingehen oder in Streifen und Faden verschwimmen, wie sich Nebel bilden, wogen, wallen, mit Bergen in Umarmung liegen oder die Ebene als Meer bedecken oder an der Bergspitze als Wolken hinziehen und das Angesicht des Betrachtenden streifen, wie sich Regen, wie sich Schnee, wie sich Tau und Reif bildet, wie alles wechselt, lebt und wandelt: wer dieses ergründen wollte, dem würde für dieses scheinbar kleine Ding sein Leben nicht hinreichen.
Adalbert Stifter | Vom Grossen im Kleinen | Scientia – Verlag Zürich 1949 | Seite 349
Ausschnitt aus „Naturstudie“ Band Seeland | Robert Walser
Namentlich kam mir stets der Wald, seltsam schön und reich und voll Phantasie vor. Immer meinte ich, daß es von irgendwoher eigentümlich töne und dufte, daß beides leise durcheinanderfließe, indem nun der Klang einen sichtbaren Glanz und die Düfte einen bestimmten Ton angenommen hätten. Geheimnisvoll stand ein altes Landhaus wie in sich selbst versteckt, dicht am dunklen, lieben Waldrand. Seinen hübschen Platz schien sich das nette gute Gebäude nach eigenem Wunsch gewählt zu haben. Mit entzückendem, urwelthaften Schmelz sangen hie und da die Waldvögel. Bald tönte es wie Weh, bald wie Spott, bald wie Jubel, bald wieder wie übervolle, üppig-langgezogene Klage. Weh und Lust gingen als Gestalten freundlich hier- und dorthin, derart, daß ich mir sagte, es töne hierherum nach Vergnügen, dortherum nach wehmütigem Verzagen. Alles Getöne drang wie aus dem Munde der Dunkelheit selber naturhaft hervor, und alle diese kleinen guten harmlosen Vögel schienen mit ihren süßen Stimmen allen von jeher vorhandenen Weltschmerz, alles von jeher gefühlte Ungeheuere; Schöne zugleich und Schreckliche lieblich vergegenwärtigen und verständlich machen zu wollen. Das mit so schweren Ketten umklammerte, anmutige, reizgefüllte, schmerzgeschmückte Dasein war zum Gesang geworden, und alles Menschlich-Irrende kam zu wesentlichem Ausdruck. Die Erde selber schien ihr ureigenes Lied zu singen. Ganz nur noch Lauschen war ich, und indem ich lauschte, fiel von oben wundervolles Meeresrauschen in die Stille herab, die mich umgab. Die Bäume wollten bald drolligen, bald feierlichen Traumfiguren ähnlich sein. Allerlei hohe Tannen winkten mir mit ihren langen Ästen bedeutsam zu. Obwohl alles ruhig war, schien sich mir dennoch alles rundherum zu regen, hin und her zu schweben, auf und ab zu gleiten, in die Höhe zu steigen und in unausmeßbare Tiefe hinabzusinken.
Robert Walser | Seeland | Suhrkamp Taschenbuch 1986 | Seite 64
Reisebericht | Robert Walser
Oh, wenn du doch oben auf dem Gipfel des Gebirges mit dabei gewesen wärest, wohin ich nach einigen Ruhepausen und mit Zusammenraffen aller disponiblen Kräfte gelangte. Wunderbar in der Tat ist es dort oben. Der Himmel glich einem feurig-blau daherfließenden Strom oder Meer, es wehte mich aus Westen ein so unverschämter, will sagen, rauher Wind an, daß meine Hände im Nu blau anliefen. Herrlich, so sage und wiederhole ich, ist es auf den Felsenkanten, von wo aus man in die Feme und Tiefe schauen kann, die von überwältigender Schönheit sind. Berge sind wild und zugleich heiter wie Könige, und wer auf einer Berghöhe steht, kann sich federleicht, d. h. fast wie von selber als König Vorkommen. Ich jedoch stand zu allernächst weniger wie ein Fürst und Feldherr da, sondern sank vielmehr wie ein armer Kerl höchst ermüdet auf den grünen Boden, damit die zerbrochenen Kräfte sich allmählich wieder zusammenfinden könnten. Über den Bergrücken legte sich eine mit fabelhafter Geschwindigkeit daher zu schleichen gekommene mächtige Wolke, die augenblicklich alle soeben noch sichtbar gewesenen hellen Gebilde derart einhüllte, daß alles brandschwarz vor den Augen war und ich keine Handbreit mehr um mich wahrzunehmen vermochte. Aber ebenso schnell, wie es sich verdunkelt hatte, wurde alles wieder hell und klar und freundlich. Unten im Abgrunde dehnte sich in zarten lichten Farben wie auseinandergezogenes Kinderspielzeug, zierlich, doch wieder unendlich groß, die Ebene mit ihren Flüssen, Wäldern, Hügeln, Feldern, Seen und Ortschaften majestätisch aus. Die entzückende, leicht durchzitterte, grünliche, weißliche und rötliche Feme glich einer weggeworfenen gigantischen Rose. Der stille Mittag ähnelte einer geheimnisvollen weißen Mitternacht. Alle Weiden lagen verträumt, versonnen da wie Gedichte, worin von Bergeinsamkeit die Rede sein mag, und nah und fern standen alle Berge stumm und schön herum, wie ehrfurchtsgebietende, riesenhafte Gestalten aus sagenreicher, schauervoller Geschichte. Ich bitte dich, dir die Pracht, die Lust, vor allem die herrlich-kalte Bergluft vorzustellen, die einzuatmen ein Glück ist.
Robert Walser | Seeland | Suhrkamp Taschenbuch 1986 | Seite 38
Das Orgelspiel des Himmels | aus «Dschuang Dsi» Buch II, 1
Meister Ki sprach: «Die grosse Natur stösst ihren Atem aus, man nennt ihn Wind. Jetzt eben bläst er nicht, bläst er aber, so ertönen heftig alle Löcher. Hast du noch nie dieses Brausen vernommen? Der Bergwälder steile Hänge, uralter Bäume Höhlungen und Löcher: sie sind wie Nasen, wie Mäuler, wie Ohren, wie Dachgestühl, wie Ringe, wie Mörser, wie Pfützen, wie Wasserlachen. Da zischt es, da schwirrt es, da schilt es, da schnauft es, da ruft es, da klagt es, da dröhnt es, da kracht es. Der Anlaut klingt schrill, ihm folgen keuchende Töne. Wenn der Wind sanft weht, gibt es leise Harmonien, wenn ein Wirbelsturm sich erhebt, so gibt es starke Harmonien. Wenn dann der grause Sturm sich legt, so stehen alle Öffnungen leer. Hast du noch nie gesehen, wie dann alles leise nachzittert und webt?»
Der Jünger sprach: «Der Erde Orgelspiel kommt also einfach aus den verschiedenen Öffnungen, wie der Menschen Orgelspiel aus gleichgereihten Röhren kommt. Aber darf ich fragen: wie ist das Orgelspiel des Himmels?»
Meister Ki sprach: «Das bläst auf tausenderlei verschiedene Arten. Aber hinter all dem steht noch eine treibende Kraft, die macht, dass jene Klänge sich enden, und dass sie alle sich erheben. Diese treibende Kraft: wer ist es?»
Dschuang Dsi | Verlag Eugen Diederichs Jena 1920 | Seite 11
Beiseit
Robert Walser | Die Gedichte | Suhrkamp Taschenbuch 1986 | Seite 22